mit 3,45 qm permanente wiedergabe war nicht zu rechnen. man vergegenwärtige sich meine panik, als es einzog... 1,50 x 2,30 m groß, hat es sich sofort als hintergrund für mein ikea-wohnelement empfohlen.
und nun steht er da, der spiegel, den ich noch vor einem jahr tunlist vermeiden wollte.
plan9 - 30. Dez, 15:52
obwohl ich in meinem bisherigen leben eine verwegene pokerrunde immer einem esoterischen klöppelkränzchen vorzog, begab es sich vor einiger zeit, dass sich eine liebe freundin nach ihrem ersten aids-test nicht nur zu einem kaffee bei mir einlud, sondern gar ihre tarotkarten mitbrachte.
"schau", sagte sie mit einem augenaufschlag, den sie nur von morticia addams abgekupfert haben konnte, "da steht alles drin: wer du bist, wie du bist und wo es hingeht in diesem jahr!"
mit frischgefeilten fingernägeln verteilte sie die große arkane auf den eigens dafür ausgebreiteten dunkelrot seidenen tuch und sah mir dabei tief in die augen. was ich jedoch ein wenig irritierend fand, denn "mit verlaub, ma chère, nach flirten steht mir grade gar nicht der sinn, denn die kippen sind alle!" unbeeindruckt fuhr sie fort, warf mir wortlos ihre gauloise légère hin und ließ sich im folgenden nebel mein geburtsdatum geben.
ohne sich von mir papier und bleistift zu erbitten, begann sie in windeseile vierstellige zahlenkolumnen zusammen zu rechnen, womit sie sich zweifellos meinen stillen respekt einheimste. auch wenn sie dabei immer wieder "numerologie, ich hasse sie!" murmelte, während ich ihr eine zigarette nach der anderen stahl.
schließlich, nach geschlagenen 30 minuten, strahlte sie mir entgegen, zog eine karte aus dem stapel und rief: "schau, schatz, du bist das universum!"
"ach?!" entfleuchte es mir, denn bisher hielt ich mich noch nichtmal für universell einsetzbar.
"alles, was du nun tun musst", trällerte sie, als ob es das leichteste von der welt wäre, "ist mit dir eins sein!"
plan9 - 18. Apr, 08:40
„Das ist doch nicht dein Ernst?!“, fragt sie und würde mich wahrscheinlich auch wieder gequält angucken, wenn ich ihr die Chance dazu ließe. Tu ich aber nicht. Rhetorische Fragen würdige ich ab jetzt keines Blickes mehr. So! Der erste Entschluss wäre damit gefasst und die lange Liste der Dinge, die ich nächstes Jahr ganz bestimmt nicht mehr machen werde, eröffnet.
Das erfüllt mich mit Stolz, der ungefähr so groß ist, wie damals, als ich das erste mal nicht in die Windel, sondern in den Topf gemacht hab. Daran kann ich mich leider nicht mehr erinnern. Was schade ist, denn es muss ein Moment des absoluten Glücks gewesen sein, gemessen vor allem an den Reaktionen meiner Umgebung, die in heillosen Jubel ausbrach, weil ich ja jetzt schon groß bin.
Auch nicht erinnern kann ich mich an die Situation, als ich mit meinem Vater an einer Straßenbahnhaltestelle stand und er mein liebstes Bilderbuch in den Müll werfen wollte. Mir soll Wut in Gesicht gestanden haben, als ich mich verzweifelt an das Buch klammerte und mich mit meinem ganzen Sein gegen die Ungerechtigkeit der welt stemmte. Nachdem mein Vater, einsichtig ob der Erfolglosigkeit seines Tuns, von dem Buch abließ, soll ich ihn belehrt haben: „Sowas macht man mit kleinen Kindern nicht!“
Absurd an der ganzen Geschichte ist eigentlich nur, dass er sie heute in gepatchworktertem Familienkreis mit stolz erzählt und noch nicht mal ich auf die Idee komme zu fragen, warum er das überhaupt getan hat. Das Einzige, was ich mir denke ist: „Mann, Typ, hast du ein Schwein, dass ich darob kein literarisches Trauma entwickelt habe!“
Obwohl… weiß man’s?
Und da kommt dann wieder der Ernst ins spiel, den sie ja – rein akustisch eingeschätzt – für etwas sehr unernstes hält. Ich schaue immer noch nicht auf, weil ich mir schlicht dieses impertinente Grinsen unter der gelüpften Augenbraue immer noch ersparen will. Jaja, hader du auf deine ironische Weise mit meinen Innereien, während ich meine Seele ausschütte. Von dir habe ich sowieso nichts anderes erwartet als ein verbales tabula rasa innerhalb eines längeren Monologs über die Notwedigkeit eines dritten Weltkriegs. „Das“, sagst du zur bekräftigung deiner nihilistischen These, „meint sogar die Bäckerin von um die Ecke. Und die muss es wissen, weil sie ja schon den zweiten miterlebt hat.“ Der kleine Pazifist in mir entwickelt darob einen unüberwindlichen Schluckauf, der keine Worte zulässt. Im Stillen hofft er aber, dass gleich etwas gesprungen kommt, das ihn ganz furchtbar erschreckt. Es kommt aber nichts, weil du eine Masche an deinem Strickgut verloren hast und nun mit deinen angespitzten Fingernägeln versuchst, sie wieder aufzufädeln.
Deine Maschen kenn ich, griemel ich zufrieden in mich hinein und schreib, weil’s grade so schön passt, gleich den zweiten Entschluss auf die nicht-mehr-im-nächsten-jahr-liste: in den spiegel gucken.
plan9 - 25. Dez, 15:44